„Ich seh dir in das Auge, Kleines!“Bei seiner Antrittsvorlesung rund um das Wunderwerk Auge zieht Prof. Dr. Ulrich Schiefer 400 Zuhörer in seinen Bann

Th, 02. June 2016

400 Hände strecken ein weißes Papier in die Höhe. 400 rechte und linke Zeigefinger werden vor den Augen zusammengeführt. Und 400 Augenpaare schauen gebannt nach vorne. Nein, bei dieser Veranstaltung im Audimax der Hochschule Aalen handelt es sich weder um eine studentische Kampfabstimmung noch um die Versammlung einer obskuren Sekte – sondern um die Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Ulrich Schiefer. Der renommierte Augenarzt, der Augenoptik und Psychophysik lehrt, nahm in seinem Vortrag „Die Magie des Sehens“ die 400 Zuhörer mit auf eine wundersame Reise rund um das Auge und optischen Täuschungen.

Ansicht, Vorsicht, Einsicht, Durchblick, Augenschmaus, Augenhöhe, Augenblick: Das sind nur einige der Worte auf der großen Leinwand im Audimax, die veranschaulichen, wie sich die große Bedeutung des Sehsinns für den Menschen auch in seinem Wortschatz manifestiert. Wir erkennen Dinge, die so winzig und nah sind wie Härchen auf dem Unterarm und so gewaltig und weit entfernt wie die Sonne im Universum – das Auge ist ein Wunderwerk der Natur. „Der Sehsinn liefert uns 83 Prozent unserer Umweltinformationen, der Hörsinn zwölf Prozent. Das ergibt zusammen 95 Prozent der menschlichen Sinneswahrnehmung“, erläutert Prof. Dr. Ulrich Schiefer und verweist darauf, dass die Hochschule Aalen die einzige Institution in Europa ist, „die Sehen und Hören unter einem Dach unterrichtet“.

Blinder Fleck

„Es heißt immer, wir sehen mit dem Auge. Das klingt so einfach, ist es aber nicht“, betont Schiefer. Etwa 500 Millionen Nervenzellen seien an dem hochkomplexen Sehvorgang beteiligt. „Das ist, als würde man mit einer 120 Megapixel-Kamera fotografieren, so etwas gibt es auf dem Markt gar nicht“. Das eigentliche Bild unserer Umwelt entsteht aber im Gehirn, das die Signale der Nervenzellen zusammensetzt – und fehlende Informationen ergänzt. Dass es dabei zu optischen Täuschungen kommen kann, davon können sich die Zuhörer im wahrsten Sinne des Wortes mit ihren eigenen Augen überzeugen: Hält man ein weißes Blatt Papier in einem bestimmten Abstand vor sein Auge, so verschwindet der darauf abgebildete schwarzer Punkt plötzlich – das Gehirn ergänzt die fehlende Information des „Blinden Flecks“ im Gesichtsfeld.

Der Professor schwebt

Den Titel seines Vortrags „Die Magie des Sehens“ hatte Prof. Dr. Ulrich Schiefer nicht zufällig gewählt, steht ihm doch der Zauberkünstler und lllusionist Julius Frack alias Stefan Zucht zur Seite. Ob ein signierter 50 Euro-Schein aus dem Publikum in Flammen aufgeht und kurz darauf in einer Orange wieder erscheint oder der Professor höchstpersönlich über seinem Stuhl schwebt – der Weltmeister der Großillusion 2009 versteht es immer wieder aufs Neue, den Saal zu verblüffen. Damit stellt Julius Frack eindrucksvoll unter Beweis, wie leicht sich der menschliche Sehsinn täuschen lässt.

Zyklopenauge

„Warum haben wir zwei Augen? Warum sitzen diese nicht rechts und links am Kopf wie die Ohren, oder vorne und hinten?“ Prof. Dr. Ulrich Schiefer erklärt, warum für das dreidimensionale Sehen zwei nach vorne gerichtete Augen nötig sind und wie aus zwei versetzten Bildern im Gehirn der Eindruck von räumlicher Tiefe entsteht. „Im Endeffekt haben wir den Eindruck, mit nur einem Zyklopenauge mitten auf der Stirn zu sehen. Wir können einem anderen Menschen auch nicht gleichzeitig in beide Augen schauen, sondern immer nur in eines“. Daher müsste die berühmte Sentenz im Filmklassiker „Casablanca“ mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergman eigentlich auch richtigerweise nicht „Ich seh‘ dir in die Augen, Kleines!“ heißen, sondern „Ich seh‘ dir in das Auge, Kleines!“.

Nachtfahrtauglichkeit

Nach dem Vortrag nahmen viele Zuhörer die Möglichkeit wahr, das Labor von Prof. Dr. Ulrich Schiefer im Innovationszentrum an der Hochschule Aalen zu besichtigen. Das Speziallabor „AMPEL“ (Aalen Mobility Perception and Exploration Lab) ist derzeit für optische und zu einem späteren Zeitpunkt auch für akustische Untersuchungen ausgelegt – aktuell wird eine Fahrsimulation aufgebaut, um das nächtliche Fahrverhalten, auch unter Blendung durch entgegenkommende Fahrzeuge unter standardisierten Bedingungen, zu untersuchen. Herzstück des Labors sind zwei VELVET Hochleistungsprojektoren der Firma Zeiss im Wert von über 300 000 Euro, die etwas scheinbar Triviales können – nämlich absolut nachtschwarze Szenarien zu projizieren. Die Studie zur Nachtfahrtauglichkeit ist ein Großauftrag der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, die das Projekt mit rund 700 000 Euro fördert. „Prof. Dr. Schiefer hat mit sehr viel Engagement das AMPEL-Labor aufgebaut“, sagt Rektor Prof. Dr. Schneider und erwähnt humorvoll die „harten Verhandlungen“, die man rund um seine Professur geführt habe. Schiefer studierte an den Universitäten Düsseldorf und Denver. Nach seiner Promotion und Tätigkeit als Stabsarzt im Bundeswehrkrankenhaus Ulm wechselte der gebürtige Dortmunder an die Universitäts-Augenklinik Tübingen, wo er sich habilitierte und auch jetzt eine Oberarzt-Teilzeitstelle für Forschungszwecke – zusätzlich zu seiner Hochschulprofessur in Aalen – innehat.

Vollgas

Die zahlreichen Besucher, die teilweise auch extra aus den USA, den Niederlanden und der Schweiz angereist waren, ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, mal hinter einem Fahrsimulator Platz zu nehmen. So wie beispielsweise Alexis Neher, der mit 160 Sachen über die Straße heizt und dabei auch gerne mal in der „Botanik“ landet. „Pass auf, da kommt ein Fahrzeug entgegen“, hört man die aufgeregten Rufe der Zuschauer. „Das ist voll das coole Gefühl“, sagt der zwölfjährige Schüler begeistert – und gibt wieder Vollgas.